Wer bin ich überhaupt?
von Gypsy
(Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
Ich bin Gypsy, 19 Jahre alt, und eigentlich ein netter Mensch. Mit 13 Jahren wurde ich vom Jugendamt in Obhut genommen, weil meine Mutter mich nicht mehr nach Hause hat kommen lassen, weil ich so oft zu spät gekommen bin. Dann hat sie ab einer bestimmten Uhrzeit die Klingel einfach ausgemacht und erst morgens wieder angeschaltet. Also bin ich in eine Wohngruppe gekommen. Dort war ich fast ein Jahr, dann hat sich das Verhältnis zu Mum wieder verbessert, und ich bin wieder zu ihr gezogen. Nach ungefähr vier bis fünf Monaten, als ich 15 Jahre alt war, sollte ich mit zu ihrer Arbeit kommen und ihr helfen. Dort kam sie nach zwei Stunden zu mir und sagte auf einmal: „Los geht’s!“ Ich meinte: „Wie – los geht’s?“ Sie: „Ja, du wirst jetzt mitgenommen, du hast die Wahl – Haft oder eine Wohngruppe in NRW. Da war ich erstmal geschockt und hab angefangen zu weinen. Ich bin dann aber nach NRW gegangen. Dort im Heide-Haus war ich dann knapp 11 Monate und hab eine Ausbildung als Maler angefangen, die aber abgebrochen, weil mein kleiner Bruder angefangen hat, genau die gleiche Scheiße zu machen, die ich auch gemacht habe. Deswegen bin ich wieder zurück zu meiner Mum. Da war ich 16 Jahre alt.
Wir wohnten noch drei oder vier Monate in Hamburg, dann sind wir nach Frankfurt/Oder gezogen. Nach kurzer Zeit hab ich mich dann mit dem Freund meiner Mum gestritten, weil er nackt durch die Wohnung gelaufen ist. Natürlich war meine Mum auf der Seite ihres Freundes, und deswegen habe ich ihr ein Ultimatum gestellt: wir - ihre Söhne - oder ihr Freund. Natürlich hat sie sich für ihren Freund entschieden, und dann habe ich meinen Bruder genommen und bin mit ihm nach Hamburg gefahren. In Hamburg angekommen sind wir zu unserem Vater gegangen, und nach einer Woche wollte meine Mum dann meinen kleinen Bruder zurück. Mich nicht. Dann ist mein Bruder wieder zu unserer Mum zurück, und ich bin bei meinem Vater geblieben. Weil mein Vater speziell ist, hab ich es nicht lange bei ihm ausgehalten. Ich bin dann weg von ihm, hab mal hier und da gewohnt, viel getrunken, dann Straftaten begangen, als ich besoffen war. Das Verhältnis zu meiner restlichen Familie hab ich auch verloren und bin dann mit 17 Jahren das erste Mal in Haft gekommen.
Nach vier oder fünf Monaten wurde ich entlassen und bin zu meiner Oma nach NRW gezogen. Das war die beste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. Dort lief erstmal alles gut. Ich habe meine jetzige Freundin kennengelernt. Und ich habe wieder ein engeres Verhältnis zu meinem Bruder und meinem Onkel bekommen. Als ich noch in Hamburg war, hatte ich dann mit meinem Bruder kaum noch Kontakt, zu meinem Onkel jahrelang gar nicht. Das Verhältnis zu meinem Bruder und meinem Onkel ist inzwischen unzerstörbar. Durch meinen Bruder habe ich meine heutige Freundin kennengelernt, und zum Glück unterstützt sie mich hier drinnen sehr. Durch sie habe ich endlich ein Ziel in meinem Leben.
In NRW lief dann doch noch einiges schief – bei meiner Oma bin ich rausgeflogen und bin dann für fünf Monate zu meiner Freundin gezogen. Hab mich dann im Februar gestellt, weil ich endlich mein Leben auf die Reihe bekommen will. Ich mache jetzt meinen ESA, und sobald ich entlassen werde, bau ich mir mit meiner Freundin ein normales Leben auf.
Meiner Meinung nach ist alles in meinem Leben so abgelaufen, weil es so laufen sollte. Hört sich vielleicht dumm an, aber ich hätte nicht das Verhältnis zu meiner Mum verloren, wenn ich draußen keine Straftaten begangen hätte. Dann wäre ich nicht in Haft gekommen, dann hätte ich nie das Verhältnis zu meinem Bruder und meinem Onkel wieder aufgebaut. Deswegen passiert alles aus einem bestimmten Grund.
Seit knapp einem Jahr habe ich übrigens einen Glücksbringer. Nämlich meine Kette, die ich von meiner Freundin geschenkt bekommen habe. Die Kette nehme ich nie ab. Und wenn doch, dann habe ich direkt schlechte Laune und fühle mich irgendwie leer. Aber sobald ich sie wieder trage, fühle ich mich wieder normal. Deswegen ziehe ich sie nie aus, weil die Kette auch irgendwie eine emotionale Stütze hier drinnen ist und ich meine Freundin so immer bei mir trage.
Eine Beziehung im Knast zu führen ist nicht so einfach. Wenn man sich von jetzt auf gleich trennen muss, und das für eine längere Zeit – das ist gerade am Anfang sehr schwer. Nach einiger Zeit wird es etwas einfacher, aber man vermisst sich trotzdem jeden Tag immer mehr und mehr. Die Person draußen ist nicht in Haft, für sie geht das Leben weiter. Entweder sie geht zur Schule oder arbeiten, während du hier drin bist in dieser vakuumierten Dose. Du machst jeden Tag das Gleiche: aufstehen, Schule, Arbeit, um 15:30 Uhr ist Einrücken aufs Haus. Dann ziehst du dich um für die Freistunde, die von 16-17:00 Uhr geht, dann hast du Freizeit, in der du telefonieren kannst. Du willst deine Partnerin anrufen, dann geht sie vielleicht nicht ran, weil sie irgendwo unterwegs ist, weil sie draußen einen komplett anderen Tagesablauf hat. Das fuckt dann schon echt ab. Da freut man sich den ganzen Tag auf ein Gespräch, und dann ist sie nicht da. Deswegen ist eine Beziehung im Knast echt schwer. Aber trotzdem machbar.
Mehr über das Schreibprojekt HAFTNOTIZEN, die Schreibtrainerin Tania Kibermanis sowie die Bedingungen, unter denen die Texte entstehen, erfährst du auf der Startseite der Haftnotizen.
Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt.