Der Hamburger Jugendserver

Die Geschichte meiner Familie: zwischen Armut und Krieg sowie Hoffnung und Harmonie

Von Zizou Abu D.

(Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)

 

Ich fange als allererstes mal mit der Geschichte meiner Familie mütterlicherseits an, welche leider eher kürzer ausfällt – warum das so ist, wird sich im Laufe dieses Textes noch herausstellen. Meine Mutter wuchs Ende der Sechziger Jahre mit ihrer Familie in Hamburg auf. Sie waren sechs Geschwister, fünf Mädchen und ein Junge. Meine Mutter war die Jüngste. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen, und um die Zukunft, insbesondere die der Kinder, wurden sich so gut wie keine Gedanken gemacht. Die Mutter war depressiv, und der Vater versuchte, so gut wie es ging, die Familie zu ernähren. Und dafür arbeitete er hart und verstarb früh, meine Mutter war erst fünfzehn - und so lernte ich ihn nie kennen und er mich auch nicht. Meine Großeltern haben den Zweiten Weltkrieg erlebt, und waren kein Einzelfall in der Zeit danach, die geprägt war von Verlust, Armut, Depression und Ablenkung durch Hobbys. Mein Großvater hatte für mich eher unbekannte, aber äußerst interessante Hobbys wie Funken und Mopeds. Hier endet die Vorgeschichte schon fast wieder, denn mehr weiß ich eigentlich auch gar nicht über diesen Teil der Familie – sie leben verstreut, und viele sind mir unbekannt. Es gab noch zwei oder drei Geschwister meiner Großeltern, aber die verstarben oder verschwanden schon in der Kindheit meiner Mutter. Es herrschte schlichtweg kein Interesse aneinander – bis heute. Heute sind uns nur noch die Geschwister meiner Mutter bekannt, von denen auch nur noch vier zusammenhalten, also engen Kontakt haben, und ein paar ihrer Kinder, so wie ich. Das sind die Wenigen, die immer in meinem Leben präsent waren und sogar jetzt während meines Gefängnisaufenthaltes für mich da sind. Diese Familie wird eines Tages sicher auch aussterben, wenn alle sechs Geschwister nicht mehr am Leben sind. Außer wir, ihre Söhne und Töchter, nehmen ihren Namen an und vererben ihn weiter – das ist mein Plan. Und hiermit habe ich nicht nur eine Familiengeschichte erzählt, sondern auch eine Tragödie beschrieben: Das Zerbrechen der Familienbande in Deutschland.

Jetzt komme ich zur Familiengeschichte meines Vaters: Seine Familie sind die Nachfahren arabischer Stämme aus dem Jemen, welche sich in Nordafrika ansiedelten und größtenteils auch mit den Ureinwohnern, den Berberstämmen, vermischten – letzteres geschah teilweise auch bei der Familie meiner Großmutter. Das Leben meiner algerischen Großeltern war, wie das meiner deutschen, von Verlust und Mangel durch Krieg geprägt. Nur waren es bei ihnen nicht nur einer, sondern gleich zwei Kriege und vorher die knapp hundert Jahre lange Unterdrückung der französischen Kolonialmacht. Der erste Krieg war der Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich, der zweite war der algerische Bürgerkrieg, der als das „blutige Jahrzehnt“ in die Geschichte einging. Mein Vater und seine neun Geschwister kamen zwischen diesen beiden Kriegen auf die Welt. Die Familienbande waren und sind bis heute stark. Die Familie meiner Großmutter ist groß und wohnt zu einem Teil dicht an dicht eine ganze Straße entlang – zusammen mit einem Teil der Familie meines Großvaters, die ursprünglich aus einer anderen Stadt stammte, nicht aus der Hauptstadt Algier, wo sie heute mit der großen Familie meiner Großmutter leben. Finanziell ging es ihnen trotz der Nachkriegszeit vergleichsweise gut, was nicht zuletzt daran lag, dass mein Großvater Arbeit in Frankreich hatte. Doch trotz alledem waren immer noch die allgemeinen Umstände, das ganze Drumherum und insbesondere das Bildungssystem schlecht und die Wirtschaft und der gesamte Arbeitsmarkt von Korruption beherrscht. Algerien ist eigentlich ein sehr reiches Land und hat fast alles, um ein starkes Land zu sein, doch die im Hintergrund agierenden mafiaähnlichen Eliten, die aus einigen wenigen Leuten und Familien bestanden, plünderten Land und Leute aus. Ende der Achtziger Jahre erreichte die Ungerechtigkeit einen Höhepunkt, und sogar die Lehrer an den Schulen sagten ihren Schülern, dass es in Algerien keine Zukunftsperspektiven für sie gibt und sie lieber auswandern sollten. So wuchs die Unzufriedenheit der Leute, die sich nach einer Revolution sehnten, die ihnen endlich die heiß ersehnte Freiheit, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit bringen würde. Die algerische Regierung ließ die zu dem Zeitpunkt anstehenden Wahlen nach einigen Ungereimtheiten abbrechen und den Notstand ausrufen. Algerien ging noch weiter kaputt und wurde in Sachen Fortschritt noch weiter zurückgeworfen.

Das ist die Geschichte der Generation meines Vaters, von denen viele fliehen mussten – zuerst vor Armut und später dann vor dem Krieg. Und diejenigen, die flohen, konnten jahrelang nicht in ihre Heimat zurück, denn sie wären ansonsten beim Militär wehrpflichtig gewesen, und sie wollten nicht auf ihre eigenen Brüder und Schwestern schießen. Viele wurden durch die Gewalt des Militärs erschüttert, als sie noch sehr jung waren. Inzwischen formiert sich allmählich eine neue Generation, um gewaltfrei nach Gerechtigkeit zu rufen. Das Land kommt langsam zur Ruhe, und alles wird etwas besser.

Das hier war die Geschichte meiner Familie – viel Tragik und Leid, obwohl mir meine Mutter und mein Vater immer wieder sagen, dass ihre Vergangenheit viel Gutes hatte und irgendwie auch alles in allem schön war. Ich glaube das auch, denn wären die Lebensgeschichten meiner Eltern nicht so verlaufen, wie sie es sind, dann wären sie sich wohl auch nie begegnet und hätten ihre Zukunft und die ihrer Kinder nicht so schön gestaltet. Und ich allein bin auch nur Zeuge, dass sie genau das getan haben.

 


Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt. | Bildnachweis: verzweigter Baum in Moorlandschaft © JIZ Hamburg/Angerer

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