Der Hamburger Jugendserver

Leben im Brennpunkt

von O.M.E.

(Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand)
 

Als ich anfing zu dealen, wurde mein Freundeskreis kleiner. Aber dafür wurden meine Jungs und ich zu einer Art Familie. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass man mich „Asi“ nannte. Irgendwie fand ich es auch ganz cool. Wenigstens unterschied mich das von den Leuten, von denen ich mich unterscheiden wollte.

Wir hingen täglich vorm Dönerladen ab – ein großer Platz, von dem eine kleine Allee abging, die auch gleichzeitig die Haupteinkaufsstraße war. Der Platz hatte gar keinen richtigen Namen, aber weil dort der große Dönerladen war, hieß er für uns eben „vorm Dönerladen“. Das war schon ein geflügeltes Wort. Der Platz hatte seinen ganz eigenen Charme. Es war eigentlich ein total kaputter Ort. In der Telefonzelle, die da rumstand, hat es ständig nach Schore (Heroin, Anm. d. Red.) gerochen. Am Boden lag überall Alufolie, die die Junkies einfach fallenließen, nachdem sie sich ihren Schuss gesetzt hatten.

Der Platz war für uns so etwas wie ein zweites Wohnzimmer. Vorm Dönerladen hingen sämtliche Kanaken (Anm. d. Red.: Hierbei handelt es sich – anders als man zuerst vermuten würde - nicht um eine rassistische Zuschreibung, sondern um eine Eigenbezeichnung einer sozialen Gruppe. Und da der Autor des Textes sich dieser Gruppe zugehörig fühlt, nutzt er deren Eigenbezeichnung. Hingegen wären die Bezeichnungen „Kanake“ und „Asi“ als Fremdbezeichnung zweifellos rassistisch und despektierlich. Auch das N-Wort wird in einem bestimmten Soziotop gerne als Eigenbezeichnung genutzt. Natürlich verwenden wir bei den Haftnotizen keinerlei rassistische Zuschreibungen und achten sehr sorgfältig auf die Wortwahl.) aus dem Viertel ab. Sie parkten dort mit ihren Benzen und ihren BMW und brachten ihre Kampfhunde und ihre Gangsterfreunde mit. Und deswegen bekamen wir vorm Dönerladen auch regelmäßig Besuch von der Polizei. Jeden Tag kamen sie vorbei. Als wäre der Platz vorm Dönerladen so etwas wie das Zentrum des internationalen Verbrechens gewesen. Es fuckte uns schon ab, als wir von Weitem die Streifenwagen vorfahren sahen. Als die Polizisten dann ein paar Minuten später vor uns ausstiegen, riefen sie meistens so etwas wie: „Überraschung, Jungs!“ Ich konnte mir schon meine Uhr nach diesen Überraschungen stellen. Immer wieder nahmen sie unsere Personalien auf und durchsuchten uns. Einer von ihnen fragte mich: „Wie heißt du, Kleiner?“ Ich habe geantwortet: „Müssten Sie das nicht schon langsam auswendig wissen?“

Es war wirklich jeden Tag dasselbe Spiel, das einfach nur aus Prinzip gespielt wurde. Warst du ein Kanake und in der falschen Ecke unterwegs, wurdest du abgefuckt. Das galt dann auch für die, die noch nie in ihrem Leben irgendwas angestellt hatten.

Aber wir waren die Asis. Eine Erkenntnis, die sich rumzusprechen schien. Es wurde immer schlimmer. Von Tag zu Tag wurden die Kontrollen schärfer, und es war für uns mittlerweile normal, dass zig Streifenwagen vorfuhren und die Polizisten uns gegen die Wand pressten und durchsuchten. Wer weglief und dabei nicht schnell genug war, kassierte auch mal Schläge. Andererseits haben wir denen auch nichts geschenkt. Wir sind immer wieder auf die Uniformierten losgegangen. Wenn mal ein einzelnes Polizeiauto vorgefahren war, sind wir direkt mit zwanzig Mann auf sie losgegangen.

Mittlerweile war ein Jahr vergangen, und meine Karriere als Drogendealer lief besser als je zuvor. Ich war fünfzehn und expandierte. Ich hatte mir einen ordentlichen Kundenstamm aufgebaut und zu dieser Zeit zum ersten Mal ein bisschen Geld auf der Tasche. Keine Unmengen, aber im Gegensatz zu früher konnte ich hier und da auch mal einen Hunderter ausgeben. Ich war auf dem besten Weg, wirklich ein Gangster zu werden.

Nach der Schule war ich gerade dabei, ein paar Kunden in der Wohnsiedlung zu beliefern, als mich Dilowans (Namen geändert) kleiner Bruder Ali abfing. Dilowan war hier in der Gegend ein großer Dealer, den jeder kannte. Ali war ganz aufgeregt. „Du musst sofort mitkommen! Mein Bruder will dich sprechen.“ „Was, warum denn?“, fragte ich. Er zuckte nur mit den Schultern und zog mich mit. Ich habe nicht mal gewusst, dass Dilowan meinen Namen überhaupt kannte. Und jetzt wollte er etwas mit mir besprechen. In meinem Kopf liefen tausend Filme ab. Wahrscheinlich ging es um meine Drogengeschäfte. Ich wusste, wo die Jungs von Dilowan ihr Zeug verkauften, und habe wirklich versucht, niemandem in die Quere zu kommen. Wahrscheinlich war ich trotzdem irgendwem auf die Füße getreten. Und jetzt würde ich meine Quittung bekommen. Fuck. Dilowan war niemand, mit dem ich mich anlegen wollte.

Ich stellte mich also auf das Schlimmste ein. Dilowan und seine Leute warteten vorm Dönerladen auf mich. Er war ein großer Mann, schlank, und mit extrem kräftigen Armen. Er lächelte mich an. Ich war extrem nervös. „Gib uns dein Handy“, sagte einer seiner Jungs. Ich zögerte. Dilowan sagte: „Keine Sorge, wir wollen nur auf Nummer Sicher gehen“. Ich gab dem Typen also mein Handy. Dilowan ging zwei Schritte auf mich zu, legte seinen Arm um meine Schulter und sagte: „Lass uns eine Runde spazieren gehen.“ Er wirkte nicht so, als wollte er mir Ärger machen. Im Gegenteil, er war sehr herzlich. „Man spricht hier viel über dich“, sagte er. „Man sagt, du würdest dealen. Man sagt, du machst deinen Job gut. Und du weißt, wann du die Fresse halten musst.“

Ich nickte. „Du bist vorsichtig“, fuhr er fort. „Die Kunden kennen nicht mal deinen richtigen Namen.“ An diesem Tag fing ich an, für Dilowan zu verkaufen. Und war wieder einen Schritt näher dran, ein echter Gangster zu werden.
 


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Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt.

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