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Haben wir's geschafft?

Statement zu Angela Merkels "Wir schaffen das." am 31.8.2015

 

"Wir schaffen das."

Diese drei Worte wurden in den letzten fünf Jahren mit einer besonderen gesellschaftspolitischen Bedeutung aufgeladen. Sie stehen für die Debatte über die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015/2016 und deren Auswirkungen auf Deutschland und Europa. Drei Worte aus einer fast 17-minütigen Rede, die Angela Merkel am 31. August 2015 auf der Bundespressekonferenz hielt. Ihre Rede und die anschließende Frage-Stunde drehten sich überwiegend um die vielen Menschen, die aus ihren unsicheren Heimatländern geflüchtet waren, in Deutschland und Europa Schutz suchten, und wie deren Aufnahme zu bewältigen  sei.


 

Der fünfte Jahrestag dieser Äußerung von Angela Merkel wird auf allen journalistischen Kanälen zum Anlass genommen, Bilanz zu ziehen. Was hat sich getan? Was haben wir als Gesamtgesellschaft geschafft oder auch nicht?

www.daserste.de > Video-Dokumentation zu Angela Merkels "Wir schaffen das." (44 min v. 22.6.2020)
 




Geschafft?

Wie viele geflüchtete Menschen sind nach Deutschland gekommen und aus welchen Ländern? Wie wurden Unterbringung und Versorgung organisiert, wie sieht es heute aus? Wie lange dauern derzeit die Asylverfahren im Vergleich zu damals? Wie viele der Zugewanderten fanden Arbeit und/oder eine Wohnung? Wie gut konnten sie die deutsche Sprache erlernen? Wie wurde die Finanzierung auf die Beine gestellt? Zu diesen und noch viel mehr Fragestellungen, die Aufschluss über den Grad des Geschafften geben könnten, gibt es Studien, Erhebungen, Statistiken. Im Vergleich zu anderen Ländern hat sich Deutschland ziemlich gut geschlagen.
 


Aber wann ist Integration gelungen?

Reicht es aus, dies nur aus Sicht der Einheimischen zu analysieren? Der Erfolg der Aufnahme von Geflüchteten in unsere Gesellschaft lässt sich weder allein anhand von Zahlen, noch ausschließlich nach unseren einheimischen Kriterien (die ja auch nicht einheitlich sind) bemessen. Genauso wichtig ist die Perspektive der Zugewanderten. Deren Erfahrungen und Sichtweisen, wie sie sich aufgenommen und angenommen sehen, sagen viel darüber aus, inwieweit die deutsche Gesellschaft dem "Wir schaffen das." gerecht geworden ist.
 


"Wie seht Ihr das?"

Ich bin sehr viel in Kontakt mit geflüchteten Menschen und tausche mich mit ihnen auch über Frau Merkels mittlerweile berühmten drei Worte aus. Die Lebensgeschichten, -situationen und Auffassungen sind natürlich ebenso unterschiedlich wie die zugezogenen Menschen selbst. Die meisten meiner GesprächspartnerInnen wertschätzen die Bemühungen Deutschlands, ihnen die Aufnahme in unsere Gesellschaft sowie ein eigenständiges, würdevolles Leben zu ermöglichen. Nach wie vor bestehende Hürden nehmen sie mit Nachsicht in Kauf oder als Herausforderung an. Das hätten wir also geschafft. Andere hadern stärker mit den bürokratischen, aber auch sozialen und menschlichen Schwierigkeiten, von denen sie hier im Alltag aufgerieben werden. Da gibt es noch einigen Optimierungsbedarf.

Das Hamburger Magazin Flüchtling gewährt dir noch tiefere Einblicke: www.fluechtling-magazin.de
 




Über einen Kamm geschert.

Ein Aspekt zog sich wie ein roter Faden durch alle meine Gespräche mit Geflüchteten: die Befürchtung bzw. die konkreten Erfahrungen, pauschalen Bewertungen ausgesetzt zu sein. Sei es wegen ihres Fluchthintergrundes, der Herkunft oder dem Fehlverhalten einiger weniger Geflüchteter. Zum Beispiel durch Urteile wie "die Flüchtlinge wollen sich doch alle nur im deutschen Sozialsystem einnisten", "sie sind arbeitsunwillig und neigen zur Kriminalität", "die Flüchtlinge wollen uns doch aus unserem eigenen Land vertreiben", "sie wissen nicht, sich zu benehmen", "sie behandeln ihre Frauen schlecht".

Niemand möchte auf diese Weise vorverurteilt, geschweige denn verleumdet werden, wirklich niemand! Wenn viele jener Menschen, die vor fünf Jahren in Deutschland Schutz suchten, sich noch immer oder immer mehr unter extrem kritischer Dauerbeobachtung und -bewertung fühlen, sagt das auch etwas über uns als Aufnahmegesellschaft aus. Etwas mehr Herzlichkeit, Gelassenheit und Differenzierung im alltäglichen Miteinander würde uns sicherlich gut zu Gesicht stehen.
 


Plädoyer für gelebte Demokratie

Eine Meinung haben und vertreten zu dürfen. Ambivalenzen sowie Unbequemlichkeit aushalten. Verschiedenheit, wenn nicht schon wertschätzen, dann zumindest hinnehmen. Im Idealfall neugierig aufeinander sein. Die Bereitschaft zur differenzierten und konstruktiven Auseinandersetzung. Freie Lebensgestaltung für den Einzelnen, Respekt vor Anderen, gegenseitige Toleranz, alles unter dem gemeinsamen Dach des Grundgesetzes. Öfter mal einen Kaffee miteinander trinken und einfach nur schnacken, nicht von Flüchtling zu Einheimischem oder Helfendem, sondern von Mensch zu Mensch. So verstehe ich gelebte Demokratie und ein Miteinander auf Augenhöhe.

Gegenläufig dazu sind die rechtspopulistischen, rechtsextremen, Menschen herabwürdigenden Positionen, die zunehmend lauter in die Öffentlichkeit posaunt werden. Das bereitet mir Sorge. Ich fürchte nicht nur um unsere demokratischen Werte, sondern auch ganz konkret um das Wohlergehen jener zugewanderten Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind.
 


Ja, eine Menge geschafft.

Es hat sich viel Gutes getan seit Angela Merkels "Wir schaffen das." am 31. August 2015, politisch, infrastrukturell und zivilgesellschaftlich. Das erfüllt mich mit Hochachtung vor dem humanitären Engagement Deutschlands und seiner Bevölkerung. Auch die Leistung sehr vieler Geflüchteter, sich - trotz des schweren emotionalen Fluchtgepäcks - in kürzester Zeit in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden, beeindruckt mich immer wieder aufs Neue.

Mein persönliches Fazit: Wir haben sehr viel geschafft, aber hey ... da ist noch Luft nach oben.
 


Infos, wie du dich für Geflüchtete engagieren kannst, findest du in unserer Rubrik Geflüchtete unterstützen.

In unserem Infoladen bekommst du kostenfrei oder für wenig Geld viel Hintergrundmaterial zu diesem Thema.

Weitere Infos:
www.bpb.de (Bundeszentrale für politische Bildung)
www.bpb.de > kostenfreier Download des Hefts "Wir schaffen das."
www.bpb.de > Flucht und Asyl


Text: Sabina aus der JIZ-Redaktion

Bildnachweise:
alle Bilder © Jugendinfozentrum Hamburg/Angerer

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